Suizid in der Landwirtschaft – eine Literaturanalyse und Expertengespräche
Das Thema Suizid in der Schweizer Landwirtschaft schlägt immer wieder hohe Wellen. Warum sahen diese Menschen keinen anderen Ausweg mehr? Wie konnte es so weit kommen? Gibt es Risikofaktoren? Gibt es auch Schutzfaktoren? Die Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) führte dazu mit finanzieller Unterstützung des Bundesamtes für Landwirtschaft (BLW) eine Literaturanalyse zur Thematik «Suizid in der Schweizer Landwirtschaft» durch und interviewte zudem Expertinnen und Experten aus Landwirtschaft, Beratung, Psychiatrie und Verwaltung. Diese breit angelegte Studie soll Aufschluss darüber geben, welche Grundlagen zum Thema bestehen.
Die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zu Suizid ist sehr hoch, Studien zum Thema Suizid in der Schweizer Landwirtschaft gibt es hingegen kaum. Daher fokussierte die Literaturanalyse auf Suizid in der Schweiz sowie Suizid in der Landwirtschaft weltweit. Insgesamt 270 Literaturtitel wurden schliesslich in die Analyse einbezogen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse wurden mit dem Wissen der Expertinnen und Experten ergänzt.
Überblick über die Erkenntnisse
Aktuelle und offizielle Zahlen zur Häufigkeit von Suiziden in der Schweizer Landwirtschaft gibt es nicht. Die zuletzt veröffentlichten Daten stammen aus den 1980er Jahren vom Bundesamt für Statistik (BFS): In den Untersuchungsjahren 1979 bis 1983 hatten die Landwirte in der Schweiz eine um +25 % höhere Mortalitätsrate durch Suizid als die «WHO-Standardbevölkerung Europa». In den 1980er Jahren erlebte die Schweiz insgesamt eine Spitze in der Suizidrate, in den folgenden Jahren ging sie stark zurück. Ein wesentlicher Faktor dafür war, dass Menschen mit psychischen Beschwerden zunehmend professionelle Hilfe in Anspruch nahmen, was sich auch an den Verschreibungszahlen von Psychopharmaka, insbesondere Antidepressiva, zeigte. Von 2003 bis 2010 hat sich die Suizidrate in der Schweiz auf einem konstanten Niveau eingependelt, ohne die assistierten Suizide wäre die Rate weiter sinkend.
Risikofaktoren für Suizid in der Landwirtschaft
In der Literatur werden unterschiedlichste Risikofaktoren für Suizidalität identifiziert. Das Zusammenspiel dieser Risikofaktoren ist dabei komplex und findet auf verschiedenen Ebenen statt, z.B. persönlich / individuell, familiär, soziales Umfeld, betrieblich oder gesellschaftlich.
Für die Analyse wurden die wissenschaftlichen Artikel und Expertenaussagen den verschiedenen Ebenen zugeordnet. Dabei fiel auf, dass eine grosse Anzahl Risikofaktoren der individuellen Ebene angehören: etwa akute Krisen, Depressionen, Grenzen des eigenen Körpers nicht berücksichtigen, Vereinsamung, Gefühle der Ausweglosigkeit, Scham Hilfe zu holen, negative Selbstwahrnehmung oder Existenzangst. Auf der Ebene der Familie sind Selbstwertgefühl und Stellung in der Familie wichtige Themen, die positive und negative Einflüsse auf die Person haben können. Die enge Verflechtung zwischen der Persönlichkeit und der Identität / Berufung als Landwirt kann ein weiterer Risikofaktor sein; ebenso das Gefühl der fehlenden Wertschätzung der Arbeit, noch verstärkt bei hoher Arbeitsbelastung und finanziellen Schwierigkeiten. Ein anderer wichtiger Risikofaktor ist, dass die Gesellschaft persönliche Krisen als Schwäche auslegt, was zusätzlich zu Druck und Tabuisierung führt.
Schutzfaktoren
Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) führt als schützende Faktoren starke persönliche Beziehungen, religiöse oder spirituelle Überzeugungen sowie positive Bewältigungsstrategien auf. Eine gute psychische Gesundheit dank persönlichen und sozialen Ressourcen wirkt insgesamt als Schutzfaktor. So kann das engste Umfeld – Partner/in, Familienmitglieder, Arbeitskollegen, Freunde und andere wichtige Personen – in Krisenzeiten unterstützend wirken. Der Schutzwert von Religion und Spiritualität könnte gemäss WHO daher rühren, dass sie Zugang zu einer Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten schaffen. Die Fähigkeit zur effektiven, positiven Problemlösung, dazu gehört auch die Fähigkeit im Bedarfsfall Hilfe zu suchen, kann die Auswirkungen von Stressoren mildern. Emotionale Stabilität, eine optimistische Zukunftseinstellung und eine gute Selbstwahrnehmung helfen, die Schwierigkeiten des Lebens zu meistern.
Sentinelle Vaud – Promotion de la Vie
Ein Angebot, das auf nationaler Ebene grosse Beachtung findet und in der Diskussion zu Suiziden und Suizidprävention in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle spielt, ist «Sentinelle Vaud – Promotion de la Vie». Seit Ende 2015 gibt es im Kanton Waadt diese Suizidprävention, die auf Früherkennung und Frühintervention ausgerichtet ist. Das Konzept der Sentinelle (Wachposten) stammt aus Kanada. Es wurde im Kanton Waadt durch Prométerre, dem Amt für Landwirtschaft und Weinbau sowie den Landeskirchen aufgebaut. Der Ablauf der Prävention wird unterteilt in 1) Schützen 2) Abfedern 3) Beraten. Ausgelöst wird der Prozess durch «Sentinelles», das sind Personen aus dem bäuerlichen Umfeld wie Tierärzte, Besamer, Kontrolleure, etc., die eine halbtägige Ausbildung der Groupe Romand Prévention Suicide erhalten, um Krisensituationen und Suizidgefährdung zu erkennen und persönlich aktiv zu werden. Rund 150 Personen wurden 2016/17 als Sentinelle ausgebildet. Bis Ende 2017 wurden über 50 Landwirte und Bäuerinnen begleitet.
Empfehlungen der Studie
Die Studie schlägt diverse Massnahmen für die Suizidprävention in der Schweizer Landwirtschaft vor, etwa Ausbau des Sentinelle-Systems in anderen Kantonen, angepasst an die örtlichen Begebenheiten; verstärkte Interventionen in Schulen und Ausbildungsstätten zu Themen wie Krisen oder Schutzfaktoren, gemeinsame Strategiediskussion von Praxis, Kantonen, Beratung und Schulen; oder Erfahrungsberichte in landwirtschaftlichen Medien zu Landwirten und Bäuerinnen, die aus schwierigen Situationen herausgefunden haben. Da im Gegensatz zu anderen Ländern das Thema Suizid in der Schweizer Landwirtschaft bisher kaum erforscht worden ist, sieht die Studie zudem Forschungsbedarf in den verschiedenen Bereichen Prävention und Schutzfaktoren, Risikofaktoren, Betroffene sowie Hinterbliebene.
Esther Grossenbacher, BLW, Fachbereich Forschung, Innovation und Evaluation, esther.grossenbacher@blw.admin.ch
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